
Zeit ist relativ. Letzte Woche ist es mir wieder ganz bewusst geworden. Eine sehr gute Bekannte ist gestorben und plötzlich wurde das Leben für einen kurzen Augenblick angehalten. Wir waren nicht sehr eng befreundet, aber wir haben uns immer sehr gut verstanden und regelmäßig ausgetauscht. Sie war genau zehn Jahre älter als ich. Und als sie vor über 12 Jahren an Krebs erkrankt ist, habe ich oft angerufen und wir haben uns immer wieder sehr intensiv unterhalten. Ich war damals mehr als beschäftigt, aber das Bewusstsein, dass jedes Gespräch das letzte sein kann, hat mich stets einen Moment finden lassen, um mich kurz bei ihr zu melden. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, dass sie nie ganz gesund wird. Es ging ihr gut und so verschwand auch meine Befürchtung, dass wir uns eines Tages nicht mehr hören. Unsere Gespräche wurden seltener und kürzer. Das letzte mal haben wir uns im April gesprochen, ganz kurz ….Immer wieder wollte ich mich bei ihr melden, ich hatte den Impuls mal wieder anzurufen, aber irgendwie kam ständig etwas dazwischen …Ich hatte mir auch vorgenommen sie zu besuchen. Seit unserem letzten Umzug wohnten wir zwar über 100 km voneinander entfernt, aber es war nicht aus der Welt und ich war auch zu anderen Anlässen in ihrer Heimatstadt. Es ist aber bei einem Vorsatz geblieben, denn ich hatte keine Zeit … meinte ich.
Die Zeit ist eben relativ. Letzte Woche war ihre Beerdigung und oh Wunder, obwohl ich sicher nicht weniger beschäftigt war als im Dezember, November, Oktober oder September, hatte ich plötzlich die Zeit. Ich habe Pläne geändert und Termine verschoben und mir die Zeit ganz einfach genommen. Es ist mir wichtig gewesen Abschied zu nehmen. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, ich hätte meinen Vorsatz umgesetzt und sie besucht, als sie noch gelebt hat? Jetzt ist es zu spät, wir werden uns nie wieder unterhalten und ich kann die Zeit nicht zurückdrehen.
Wie oft ist unser Leben bis zum Anschlag vollgestopft mit Terminen und Aufgaben? Wie oft haben wir keine Zeit? Wir haben keine Zeit für unsere Liebsten, für unsere Freunde und Bekannten, keine Zeit für die Dinge, die uns wichtig sind und keine Zeit für uns selbst! Wir arbeiten hart, den ganzen Tag. Häufig fangen wir extra früh an, um mit dem Tagesgeschäft einigermaßen fertig zu werden, oder bleiben lang nach Feierabend im Büro, damit wir halbwegs den Aufgaben hinterherkommen, die unsere Tätigkeit so mit sich bringt. Am Wochenende sind wir dann oft so kaputt, dass wir keine Kraft mehr haben für die Menschen und für die Dinge, die uns im tiefsten Inneren wirklich wichtig sind.
Tragisch daran ist, dass wir vor lauter Arbeit vergessen, was uns wirklich, wirklich wichtig ist und was tatsächlich wertvoll ist in unserem Leben. Wir sind beschäftigt und völlig absorbiert davon, unseren Alltag zu bewältigen und unsere Tätigkeit zu meistern.
Wir versuchen unser Leben im Griff zu haben, und je mehr wir das versuchen, desto mehr entgleiten uns seine wichtigsten Aspekte aus unserer Hand.
Aus der Perspektive des Todes ändert sich so manches. Und vielleicht sollten wir uns öfter die Endlichkeit des Lebens vor Augen führen und auch ohne einen traurigen Anlass innehalten und uns die Frage stellen: Nehme ich mir genug Zeit für das, was wirklich wichtig und wertvoll ist in meinem Leben?