The MANIAC – Wenn das Denken den Menschen überholt
In dieser Folge von „Books & Bolo“ sprechen Ralph Kühnl und Johannes Tröger über Benjamín Labatuts Roman The MANIAC – ein literarisch erzähltes Panorama aus Wissenschaftsgeschichte, Charakterstudien und Gegenwartsbezug.
Worum geht’s in unserer Reihe? Um Wandel: Revolutionen, Evolutionen, Transformationen – epochen- und genreübergreifend. The MANIAC fügt sich ideal ein, weil es genau diesen Wandel am Denken selbst zeigt. Ralph liest mit „Second Screen“: Während der Lektüre googelt er Figuren, Begriffe, Hintergründe – wie bei einem interaktiven Doku-Film. Johannes ordnet ein: Literatur kann mehr als Sachbücher, wenn es um Ambivalenzen geht – sie erlaubt Stimmenvielfalt, Brüche, Widersprüche.
Der Roman ist kein chronologisches Porträt, sondern eine Collage aus Perspektiven. Drei Figuren markieren drei Epochen und drei Aggregatzustände des Denkens:
Paul Ehrenfest steht als Prolog für das Ende der Gewissheit. Der Physiker, vereint mit der alten, „begreifbaren“ Welt der klassischen Physik, prallt auf Quantenparadoxien und einen politischen Epochenbruch. Er zerbricht – persönlich und sinnbildlich. Das Buch setzt damit den Ton: Erkenntnis hat einen Preis.
John von Neumann ist der Kern des Buches und unserer Diskussion. Universalgenie aus Budapest, brillant, charmant, gnadenlos rational – der Mann, der Computerarchitektur, Spieltheorie und die Logik nuklearer Abschreckung maßgeblich prägt. Labatut lässt ihn fast nie selbst sprechen; er erscheint in den Spiegelungen anderer (Gödel, Einstein, Oppenheimer, Klara). Schlüsselstelle: Gödels Unvollständigkeitssatz beendet die Hoffnung auf eine widerspruchsfreie, vollständige Grundlegung. Von Neumann wird pragmatisch – und gefährlich wirksam: Rechnen statt trösten, Systeme statt Seelen. „MANIAC“ ist Maschine und Metapher zugleich: das kalte, effiziente Denken, das unsere Moderne gebaut hat.
Lee Sedol bildet den Epilog und die Brücke in die Gegenwart. 2016 verliert der Go-Weltmeister gegen AlphaGo. Nicht nur Technik siegt, sondern eine „fremde“ Kreativität, die kein Mensch zuvor gespielt hat. Sedols legendärer „Move 78“ bringt einen Moment Menschenglanz – doch das Match kippt. Kurz danach beendet er seine Karriere. Für uns ist das die Frage im Heute: Ist KI die logische Fortsetzung von Neumanns Denken – oder bereits etwas qualitativ Neues?
Wir sprechen darüber, warum Labatut genau diese drei Figuren wählt und sie so unterschiedlich gewichtet: Ehrenfest kurz als emotionale Ouvertüre, von Neumann als langes Gravitationszentrum, Sedol als knappes, aber zwingendes Gegenwartsecho. Wir reden über die Kraft der Polyphonie (viele Stimmen statt Ein-Erzähler), über die Grenze zwischen Doku und Dichtung, über Fortschrittsglauben der 50er/60er und die Beschleunigung heutiger KI-Entwicklung. Und über eine simple Einsicht: Klugheit ist nicht automatisch Gewissen. Literatur kann das zeigen, weil sie aushält, was sich nicht planquadratisch erklären lässt.
Unsere Takeaways:
– Der Roman erklärt Wissenschaft, indem er Menschen zeigt.
– „Second Screen“-Lesen vertieft das Verständnis – und macht Spaß.
– Vom Zweifel (Ehrenfest) über Konstruktion (von Neumann) zur Simulation (AlphaGo) spannt Labatut den Bogen bis ins Jetzt.
– Die Leitfrage bleibt: Was bleibt vom Menschen, wenn das Denken ohne uns funktioniert?
Zum Schluss der Ausblick: In der nächsten Folge springen wir 3.000 Jahre zurück – Eric H. Cline, 1177 v. Chr. – Der erste Untergang der Zivilisation. Exogene Schocks, vernetzte Systeme, Kollaps: Wandel ohne „Genie“ im Zentrum. Bis dahin: abonnieren, bewerten, weiterempfehlen – und gern Feedback schicken. Crocs optional.
Was steckt wirklich hinter „künstlicher“ Intelligenz? In unserer zweiten Folge nehmen wir Kate Crawfords „Atlas of AI“ (2021) auseinander – kein Informatik-Handbuch, sondern eine schonungslose Bestandsaufnahme der materiellen, menschlichen und politischen Grundlagen von KI.
Wir sprechen über
– Erde & Ressourcen: Lithium, seltene Erden und die sehr reale „Cloud“ aus Minen, Rechenzentren und Energiehunger.
– Arbeit: unsichtbare Klick- und Moderationsarbeit („Ghost Work“), Taktzeiten, Optimierung – und was das mit Amazon-Lagerhallen zu tun hat.
– Daten & Klassifikation: warum Kategorien Macht sind, wie Vorurteile in Modelle wandern und weshalb „Objektivität“ trügt.
– Staat & Infrastruktur: Überwachung, Profilbildung, Regulierung – und was davon bereits Gesetzestexte erreicht.
– Zukunft: Welche Aushandlungen wir als Gesellschaft jetzt führen müssen.
Dazu: Reaktionen auf Folge 1, Hörerfeedback, kulinarische Exkurse (ja, Spaghetti Bolognese) – und der Ausblick auf die nächste Episode: Benjamin Labatuts Roman „The Maniac“ über John von Neumann.
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Die erste Folge von "Books & Bolo" nimmt sich das historische, aber ungemein unterhaltsame Sachbuch "Antwerp" von Michael Pye vor. Es taucht tief in die "goldenen Jahre" Antwerpens im 16. Jahrhundert ein. Antwerpen war eine vibrierende Stadt, freizügig, nur dem Handel und dem Geld verschrieben. Kirche und Fürsten waren weit weg - damit war der Boden bereitet, um eine moderne Stadtgesellschaft neuer Prägung zu entwickeln. Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Information nahmen wichtige Rollen ein.